In Zeiten globaler Vernetzung und weitgehender Informationsfreiheit rücken chronische Erkrankungen und die Menschen, die chronische Erkrankungen haben, immer mehr in den Fokus. Manche Krankheitsbilder stellen Betroffene, Ärzte, Apotheker und die Pharmaindustrie vor große Herausforderungen. Vor diesem Hintergrund ist es normal, sich nach Alternativen umzusehen, die man vorher auf Grund seiner Erziehung und Vorbildung nicht in Betracht gezogen hat.
Die Forschung an Cannabis und seinen Inhaltsstoffen steckt noch in den Kinderschuhen
Cannabis kann eine solche Alternative sein. Die Forschung an der Pflanze und ihren Inhaltsstoffen wurde jahrzehntelang vernachlässigt, bzw. fand aufgrund von Verboten nicht statt. Mittlerweile hat man jedoch erkannt, dass Cannabismedikation bei vielen Indikationen eine Alternative oder Ergänzung zu den medizinischen Leitlinien bietet.
Dieser Artikel soll vorstellen, welche gesetzlichen Grundlagen für die Verschreibung von medizinischem Cannabis gelten. Außerdem möchte ich darlegen, auf welche Probleme man als Mensch mit chronischer Erkrankung dabei stoßen kann und Lösungsvorschläge aufzeigen.
Disclaimer
An dieser Stelle wie gehabt der übliche Hinweis: Ich bin weder Mediziner noch Jurist. Alle hier zur Verfügung gestellten Informationen sind nach bestem Wissen und Gewissen recherchiert und wo es möglich war mit den entsprechenden Quellen belegt. Das Lesen dieses Artikels ersetzt weder eine juristische noch eine medizinische Beratung.
Cannabis als Medizin ist in Deutschland legal
Cannabis (per Definition: „Pflanzen und Pflanzenteile der zur Gattung Cannabis gehörenden Pflanzen“) sind in Deutschland seit 2011 (1) ein verkehrs- und verschreibungsfähiges Arzneimittel. Bis März 2017 musste es dafür „in Zubereitungen, die als Fertigarzneimittel zugelassen sind“, enthalten sein. Seit März 2017 sind auch Cannabisblüten aus staatlich kontrolliertem Anbau (2) und Importen (3) erlaubt. Der Erhalt von Cannabisblüten oder ‑präparaten als Medizin ist aber an bestimmte Voraussetzungen gebunden (4):
- Es muss eine „schwerwiegende“ Erkrankung vorliegen
- eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung steht nicht zur Verfügung oder kann wegen Nebenwirkungen oder dem Krankheitszustand des Versicherten nicht angewendet werden (Einschätzung erfolgt durch behandelnden Arzt)
und/oder - es besteht eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome
- Die Krankenversicherung muss die Verordnung genehmigen (und darf nur in begründeten Ausnahmefällen ablehnen), bevor die Versorgung mit Cannabismedikation beginnt
Was bedeutet „schwerwiegend“ in Bezug auf Erkrankungen?
Der Begriff „schwerwiegende Erkrankung“ ist in in diesem Zusammenhang leider nicht definiert. Im Zusammenhang mit Krankenversicherungen spricht man von „schwerwiegender Erkrankung“, wenn die Krankheit aufgrund der Schwere die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt (5). In zahlreichen Gerichtsentscheidungen zum Thema Cannabismedikation sind bereits viele Krankheiten als „schwerwiegend“ anerkannt (siehe unten). Zu diesbezüglichen Gerichtsentscheidungen kommt es, weil die Krankenkassen einen Kostenübernahmeantrag in 30–40% der Fälle ablehnen (6), obwohl dies nur in „begründeten Ausnahmefällen“ geschehen soll. Ein Mensch mit chronischer und/oder schwerwiegender Erkrankung muss aber noch andere Hürden überwinden, bevor es zum Kostenübernahmeantrag kommt. Für Menschen mit einer chronischen Erkrankung kann auf die persönliche Erfahrung durchaus der Begriff „schwerwiegend” zutreffen. Die persönliche Erfahrung entspricht leider nicht immer der Auslegung von Krankenkassen.
Chronische Erkrankungen sind ein Vollzeitjob
Die Liste der Krankheitsindikationen, die in Deutschland mit Cannabis behandelt werden, ist lang. Sowohl Krankenkassen (7) als auch Kliniken (8) und auch der deutsche Hanfverband (9) informieren darüber. Die Aufzählungen sind unterschiedlich lang und widersprechen sich teilweise. Als Blogger habe auch ich nicht die genauen Daten der Krankenkassen und kann hier nur meine Recherchen zusammentragen. Eine chronische Erkrankung zu managen, nimmt viel Zeit und Energie in Anspruch. Dadurch, dass Ärzte sich gefühlt immer weniger Zeit nehmen (was nicht den Menschen, sondern unserem bröckelnden Gesundheitssystem geschuldet ist), wird man mit der Zeit immer mehr zum Meister der eigenen Erkrankung. Eigenes Recherchieren und das Vernetzen mit Selbsthilfegruppen ist deshalb oft unerlässlich, wird aber zum Glück durch das Internet erleichtert.
Krankheiten, bei denen Cannabis als Medikament eingesetzt wird
Kann denn nun jede schwerwiegende oder chronische Erkrankung mit Cannabis behandelt werden? Pauschal lautet die Antwort „nein“. Um die Recherche zu erleichtern, folgt hier eine (wahrscheinlich nicht vollständige) alphabetische Liste der Krankheitsindikationen, die bereits mit Cannabis behandelt wurden
- Allergische Diathese
- Angststörung
- Appetitlosigkeit und Abmagerung
- Armplexusparese
- Arthrose
- Asthma
- Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
- Autismus
- Barrett-Ösophagus
- Blasenkrämpfe
- Blepharospasmus
- Borderline-Störung
- Borreliose
- Chronische intestinale Pseudoobstruktion (CIPO)
- Chronische Polyarthritis
- Chronische Schmerzen
- Chronisches Müdigkeitssyndrom
- Chronisches Wirbelsäulensyndrom
- Cluster-Kopfschmerzen
- Colitis ulcerosa
- Depressive Störungen
- Epilepsie
- Failed-back-surgery-Syndrom
- Fibromyalgie
- Hereditäre motorisch-sensible Neuropathie mit Schmerzzuständen und Spasmen
- HIV-Infektion
- HWS- und LWS-Syndrom
- Hyperhidrosis
- Kopfschmerzen
- Lumbalgie
- Lupus erythematodes
- Migraine accompagnée
- Migräne
- Mitochondropathie
- Morbus Bechterew
- Morbus Crohn
- Morbus Scheuermann
- Morbus Still
- Morbus Sudeck
- Multiple Sklerose (MS)
- Neurodermitis
- Paroxysmale nonkinesiogene Dyskinese (PNKD)
- Polyneuropathie
- Posner-Schlossmann-Syndrom
- Posttraumatische Belastungsstörung
- Psoriasis (Schuppenflechte)
- Reizdarm
- Rheuma (rheumatoide Arthritis)
- Sarkoidose
- Folgen von Schädel-Hirn-Trauma
- Schlafstörungen
- Schmerzhafte Spastik bei Syringomyelie
- Schmerzsyndrom nach Polytrauma
- Systemische Sklerodermie
- Tetraspastik nach infantiler Cerebralparese
- Thalamussyndrom
- Thrombangitis obliterans
- Tics
- Tinnitus
- Tourette-Syndrom
- Trichotillomanie
- Urtikaria unklarer Genese
- Zervikobrachialgie
- Folgen von Schädel-Hirn-Trauma
- Zwangsstörungen
Ergänzungen zu dieser Aufzählung nehme ich gern per Kommentar oder Mail entgegen.
Welche Ärzte verschreiben Cannabis?
Das Wichtigste zuerst: Nach dem weiter oben genannten Paragrafen des Sozialgesetzbuchs (4) ist jeder Arzt mit kassenärztlicher Zulassung (außer Tierärzte und Zahnärzte) dazu berechtigt, Cannabis zu verschreiben. Die Möglichkeiten, ein Rezept zu bekommen, beschränken sich also nicht auf Schmerzmediziner, Neurologen und Onkologen. Trotzdem verschreiben auch nach fast sieben Jahren nur wenige Ärzte Cannabis. Das liegt einerseits daran, dass der Pflanze immer noch das Stigma der „schmuddeligen“ Droge anhaftet. Es ist nicht auszuschließen, dass Mediziner hier auch auf den eigenen Ruf bedacht sind und deswegen von einer Verschreibung des Medikaments absehen. Andererseits sind Cannabis und Cannabispräparate nicht wie jede andere Medizin, sondern es gibt hinsichtlich Wirkung, Eindosierung, etc. einige Besonderheiten, die zu beachten sind. Und zum dritten befürchten viele Ärzte Regressforderungen der Krankenkassen. Denn ein Kassenarzt, der einem Patienten ein medizinisches Cannabisrezept ausstellt, verursacht höhere Kosten als einer, der eben das nicht tut. Krankenkassen haben die Handhabe, Geld von Ärzten zurückzufordern, die mehr Kosten verursachen als Kollegen in der gleichen Region. Ärzte müssten dies notfalls aus ihren eigenen Rücklagen bezahlen und das kann bei vielen Rezepten Bankrott bedeuten. Es kann als Mensch mit chronischer Erkrankung hilfreich sein, sich in Selbsthilfegruppe und Patientenvereinigungen umzuhören, welcher Arzt Cannabis verschreibt. Netzwerken ist hier der Schlüssel. Eine gute Möglichkeit bieten auch entsprechende Internetauftritte, wie z.B. hier.
Wer Cannabis als Medizin beantragen möchte, braucht seine medizinischen Unterlagen
Wenn man einen Arzt gefunden hat, der Cannabis verschreibt, heißt das aber noch nicht, dass man auch Cannabismedikamente bekommt. Laut Sozialgesetzbuch müssen für Cannabis als Medikationsalternative alle anderen Optionen ausgeschöpft sein. Das heißt in der Regel jedes andere Medikament und jede andere Form der Therapie. Ob wegen Nebenwirkungen oder aus anderen Gründen, ist hier sekundär. Es ist daher auch hier sinnvoll, die eigene Erkrankung gut zu verwalten und alle Unterlagen bezüglich der eigenen Erkrankung zusammenzusuchen. Einen Überblick über die Medikamente und Therapien, die normalerweise angewendet werden, bieten die Leitlinien. Es kann sinnvoll sein, sich hier vorab zu informieren. Die finale Einschätzung bezüglich Cannabis als Medizin erfolgt aber durch den behandelnden Arzt.
Wie stellt man einen Kostenübernahmeantrag für Cannabis bei der Krankenkasse?
Wenn das Gespräch mit dem behandelnden Arzt ergibt, dass Cannabinoide als Medizin einen Versuch wert sind, dann wird aber noch kein Rezept ausgestellt. Vor dem ersten Verschreiben muss der Arzt einen hinreichend medizinisch begründeten Antrag auf Kostenübernahme an die Krankenkasse stellen. Für diesen Antrag gibt es Vordrucke beim medizinischen Dienst des Bundes. Dieser Fragebogen sollte sorgfältig ausgefüllt werden, denn die Ablehnung der Anträge erfolgt häufig aufgrund unzureichender Begründung. Es hat daher Sinn, auch Studienergebnisse beizuheften, die untermauern, dass Cannabismedikation beim vorliegenden Krankheitsbild schon anderen geholfen hat. Medizinisch-wissenschaftliche Studien findet man online in der National Library of Medicine der USA. Diese sind in der Regel englischsprachig. Viele Antragsteller machen den Fehler, alle Indikationen aufzuführen, die eine Cannabismedikation rechtfertigen könnten (eine chronische Erkrankung kommt leider selten allein). Stattdessen ist es sinnvoller, sich auf eine Erkrankung zu fokussieren und hier den Fokus auf die Begründung zu legen. Ist die Kostenübernahme bewilligt, stellt der Arzt ein Betäubungsmittelrezept aus (BTM-Rezept) und es kann mit der Therapie begonnen werden.
Negative Auswirkungen von Cannabis als Medizin
Cannabis ist allerdings kein Allheilmittel. Es wird mittlerweile bei diversen Krankheitsindikationen verschrieben. Oft hat es weniger Nebenwirkungen als die Leitlinienmedikation. Zusätzlich können auch parallel eingenommene Medikamente, die Nebenwirkungen verursachen, durch Kombination mit Cannabispräparaten in einigen Fällen herunterdosiert werden. Der Medikamentencocktail wird so etwas verträglicher. Cannabis und Cannabispräparate führen aber nachweislich auch zu Nebenwirkungen. Diese sind häufig mit denen eines THC-Rauschs vergleichbar (13): Schwindel, Übelkeit, Müdigkeit etc. führen dazu, dass die Eindosierung mit Cannabismedikamenten manchmal etwas länger dauert. Weitere Informationen dazu können cannabisverschreibende Ärzte oder Apotheker aus den entsprechenden Apotheken geben.
Zusammenfassung
An dieser Stelle soll noch einmal eine Zusammenfassung der wichtigsten Punkte erfolgen:
- Cannabis als Medizin ist in Deutschland legal und wird unter bestimmten Umständen von der Krankenkasse bezahlt:
- Eine „schwerwiegende“ Erkrankung muss vorliegen
- Andere Therapieoptionen kommen nicht (mehr) in Frage oder sind ausgeschöpft
- Es muss eine Möglichkeit der Besserung durch Cannabismedikation in Aussicht stehen
- Cannabis wird gegen diverse Erkrankungen bereits verschrieben. Die oben genannte Liste nennt einige, aber nicht alle.
- Selbstorganisation ist der Schlüssel. Die eigene Erkrankung zu meistern und alles darüber zu lernen, ist ein Vorteil.
- Der Kostenübernahmeantrag sollte sich auf eine Erkrankung konzentrieren, nicht auf alle Komorbiditäten.
- Auch wenn viele Medien es glauben machen wollen: Cannabis ist kein Zauberkraut. Außerdem dauert es, bis man seine Medizin bekommt und dann nochmal etwas länger, bis sie wirkt wie sie soll. Nebenwirkungen sind eher die Regel als die Ausnahme.
Habe ich was vergessen? Oder fehlt eine Erkrankung in der obigen Liste? Dann schreib einen Kommentar oder eine Mail!
Weiterführende Quellen
- 1 Änderung der Anlage III des BtMG vom Mai 2011
- 2 Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 6. März 2017 (BGBl. I S. 403).
- 3 Änderung der Anlage III des BtMG vom März 2017
- 4 §31 SGB V
- 5 https://www.anwalt.de/rechtstipps/cannabis-auf-rezept-wann-liegt-eine-schwerwiegende-erkrankung-vor_131844.html
- 6 https://www.bundestag.de/resource/blob/937830/588aa57867a1cb4c4974f21a190f0089/20_14_0089-4-_Branchenverband-Cannabiswirtschaft-e-V-_Cannabis_nicht-barrierefrei-data.pdf
- 7 https://www.tk.de/techniker/gesundheit-und-medizin/behandlungen-und-medizin/indikationeb-cannabis-medizin-2032610
- 8 https://www.kalapa-clinic.com/de/beschwerden/#auflistung-von-krankheiten-mit-cannabinoiden-behandelt
- 9 https://hanfverband.de/faq/bei-welchen-krankheiten-kann-medizinisches-cannabis-angewendet-werden
- 10 https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/_old-files/downloads/pdf-Ordner/Versorgung/Cannabis.pdf
- 11 https://md-bund.de/fileadmin/dokumente/Publikationen/GKV/Begutachtungsgrundlagen_GKV/Arztfragebogen_BGA_Cannabis_2024-01–10_final.pdf
- 12 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/
- 13 https://www.bfarm.de/DE/Bundesopiumstelle/Cannabis-als-Medizin/Begleiterhebung/_node.html